Die von Raffles neu gegründete Kolonie Singapur wuchs im 19. Jahrhundert aufgrund ihrer Lage schnell. Der Handel prägte nicht nur die wirtschaftlichen Strukturen, sondern formte auch die gesellschaftliche Entwicklung der Stadt grundlegend.
Die Transportindustrie als wirtschaftliches Fundament
Die Transportindustrie bildete das Rückgrat der kolonialen Wirtschaft. In Singapur wurde eine ungeheuer große Menge an Gütern umgeschlagen, was eine entsprechend große Anzahl an Arbeitern erforderte, da die Waren zwischen Schiffen, Lagern und Fabriken hin und her transportiert werden mussten.
Die Arbeitsbedingungen in dieser Branche waren durch extreme Unregelmäßigkeit gekennzeichnet. Es existierten keine geregelten Arbeitszeiten: Wenn Arbeit anfiel, musste sie sofort erledigt werden. Die Ankunft der Handelsschiffe ließ sich nicht genau vorhersagen, weshalb die Transportarbeiter permanent in Bereitschaft sein mussten.
Die Arbeitsrhythmen waren eng mit den Naturgewalten verwoben. Der Gütertransport folgte dem ewigen Wechsel von Ebbe und Flut, der die Ein- und Auslaufzeiten der Schiffe diktierte. Im Fernhandel bestimmten die Monsunwinde den Takt der Lieferungen. Diese Abhängigkeit von den nicht kontrollierbaren Naturkräften prägte den Alltag und das Leben der Hafenarbeiter.

Lebensbedingungen der Hafenarbeiter

Aufgrund der niedrigen Löhne mussten sich die Arbeiter mit beengten Unterkünften begnügen, in denen Menschen dicht gedrängt hausten. Die dunklen, stickigen Räume boten einen idealen Nährboden für Krankheiten wie Ruhr und Tuberkulose1. Als Ausweg aus diesen gesundheitsgefährdenden Verhältnissen zogen es viele vor, auf den Transportern zu übernachten und verbrachten dort auch ihre Freizeit.
Die unregelmäßige Arbeit machte die Planung von Freizeitaktivitäten schwierig. Das gemeinsame Essen gewann daher an besonderer Bedeutung. „Hawker stalls“ (Garküchen), Teehäuser und Freiluft-Märkte siedelten sich in der Nähe der Schiffsliegeplätze an.
Chinesische Immigration und demografischer Wandel
Die schwere körperliche Arbeit und die schlechten Lebensbedingungen im Hafen erforderten einen ständigen Nachschub an Arbeitskräften. Diese kamen vor allem aus China, wo politische Unruhen und wirtschaftliche Not viele Menschen zur Auswanderung trieben. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert durchlebte China eine Phase politischer und sozialer Umwälzungen. Der Taiping-Aufstand führte zu einem blutigen Bürgerkrieg, während gleichzeitig Konflikte mit den europäischen Mächten ausbrachen. Hungersnöte, Kriege und Naturkatastrophen trieben viele Menschen zur Auswanderung und das aufstrebende Singapur bot vielen von ihnen eine neue Heimat.
Die Zahlen belegen das Ausmaß dieser Entwicklung: 1824 lebten etwa 3.300 Chinesen auf der Insel, 1860 waren es bereits 50.000, 1901 stieg die Zahl auf 164.000 und 1947 erreichte sie 730.000. Der Anteil der Chinesen an der Gesamtbevölkerung wuchs in dieser Zeit von 31% auf 77,6%.

Die Immigration war stark männlich geprägt. 1860 kamen sechzehn chinesische Männer auf eine Frau. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts erreichte Singapur eine ausgeglichene Geschlechterverteilung.
Die Einwanderer brachten ihre Kultur mit. Chinesische Teehäuser und Tempel entstanden, in denen häufig Māzǔ, die Schutzgöttin der Seeleute und Fischer, verehrt wurde. Die Göttin, die der Legende nach selbst als junges Mädchen ihren Vater und Bruder aus Seenot rettete, war besonders für die chinesischen Hafenarbeiter von großer Bedeutung – ihre Tempel dienten nicht nur der Andacht, sondern auch als soziale Treffpunkte.
Prostitution und Opiumkonsum
Der extreme Männerüberschuss führte zur Entstehung großer Bordellviertel, die sich nahe dem Geschäftsbezirk konzentrierten. Die Prostitution entwickelte sich zu einem florierenden Multimillionen-Dollar-Gewerbe mit Verbindungen nach Japan und China. 1905 waren 353 Bordelle offiziell registriert.
Die Kolonialverwaltung reagierte pragmatisch auf diese Entwicklung. Da die wachsende Wirtschaft auf männliche Arbeitskräfte angewiesen war, versuchte man die Situation durch Regulierung zu kontrollieren. Bordelle und Prostituierte mussten sich registrieren lassen, die Etablissements wurden auf bestimmte Viertel beschränkt und die medizinische Versorgung wurde verbessert.

Die Prostituierten kamen hauptsächlich aus Japan und China, wobei die sozialen Bedingungen für beide Gruppen unterschiedlich waren. Die chinesischen Frauen wurden stärker gegängelt. Viele waren als Ware gehandelt worden und besaßen weder Familie noch soziale Kontakte. Sie erhielten kaum Lohn und konnten bestenfalls Geschenke heimlich ansparen. Die mehrheitlich kantonesischen Bordelleigner verboten ihnen häufig, das Haus zu verlassen, aus Angst vor Flucht oder Entführung.
1927 änderte sich unter britischem Einfluss der Umgang mit der Prostitution grundlegend. Der Import von Prostituierten wurde verboten und erste Bordelle geschlossen. Die kontrollierte Prostitution wich illegalen Strukturen, was zur verstärkten Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten führte.
Der Opiumkonsum entwickelte sich zu einem weiteren gravierenden sozialen Problem in der Hafenstadt. Der Handel wuchs rapide: von 1.285 Kisten Opium im Jahr 1836 auf 4.689 Kisten im Jahr 1856. Viele Arbeiter nutzten die Droge zur Schmerzlinderung nach körperlich erschöpfender Arbeit, wobei der Konsum etwa zwei Drittel ihres Lohns verschlang. Der damals weit verbreitete Glaube, moderater Opiumkonsum sei gesundheitsfördernd und steigere die Arbeitsfähigkeit, erwies sich als verhängnisvoll. Die offiziellen Zahlen waren alarmierend: 1848 wurden etwa 15.000 Opiumkonsumenten registriert – schätzungsweise ein Drittel der chinesischen männlichen Bevölkerung war abhängig.
Die britische Kolonialverwaltung profitierte erheblich: Zwischen 1896 und 1906 machten die Einnahmen aus dem Opiumhandel durchschnittlich 49 Prozent der Gesamteinnahmen der Straits Settlements2 aus. In speziellen Opiumfarmen wurde das importierte Rohopium aus Britisch-Indien, Persien und der Türkei zu konsumfähigem „Chandu“ verarbeitet und in lizenzierten Opiumhäusern verkauft. Der Konsum galt damals als normale soziale Praxis – das Anbieten einer Opiumpfeife war so üblich wie das Servieren von Tee.
Transformation nach der Unabhängigkeit
Während die sozialen Probleme der Kolonialzeit sich immer weiter verschärften, bahnte sich bereits ein grundlegender Wandel an. Im 2. Weltkrieg wurde das britisch verwaltete Singapur von Japan besetzt. Nach der japanischen Kapitulation folgte eine kurze Anbindung an Malaysia und 1965 die Unabhängigkeit. Das neue Singapur wurde als parlamentarische Demokratie gegründet, unterschied sich aber deutlich von westlichen Demokratiemodellen. Regelmäßige freie Wahlen fanden statt, doch die Bürgerbeteiligung blieb gering – ein Erbe der kolonialen Verwaltungsstruktur.

Die Stadt stand vor massiven Herausforderungen, denn die alte Flusstransportindustrie konnte den Anforderungen der modernen Hochseeschifffahrt nicht mehr gerecht werden. Zwar nahmen die alten Hafenanlagen nach dem Krieg ihre Arbeit wieder auf, doch der gestiegene Warenstrom offenbarte schnell die Grenzen des Systems.
Besonders deutlich wurde dies ab 1948, als der Verkehr auf dem Singapore River das Fünffache des Vorkriegsniveaus erreichte. Die nun eingesetzten größeren Transportschiffe behinderten den Verkehrsfluss erheblich, da sie die richtigen Gezeiten abwarten mussten, um die Brücken passieren zu können. Gleichzeitig belastete die am Ufer angesiedelte Leichtindustrie die Umwelt immer stärker, sodass der Fluss, einst das pulsierende Herzstück der Stadt, zu einer stark verschmutzten Wasserstraße verkam.
Hauptverantwortlich für diesen Niedergang war die unkontrollierte Abfallentsorgung entlang des Flusslaufs. Sowohl private als auch gewerbliche Nutzer entsorgten ihre Abfälle bedenkenlos im Fluss und den angeschlossenen Kanälen. Selbst die Hawker nutzten die Wasserläufe als bequeme Entsorgungsmöglichkeit und warfen am Ende des Tages sämtliche Reste – ob pflanzlich oder tierisch – einfach ins Wasser.
Der große Umbruch
Ende der 1960er Jahre leitete die Regierung einen umfassenden Wandel ein: Die heruntergekommene Flussregion sollte sich in „Singapore’s Seine“ verwandeln. Diese ambitionierte Vision begann mit der Umsiedlung der Industriebetriebe, wobei zunächst Kohlehändler und Bootswerften weichen mussten. Zwar sorgten sich die betroffenen Menschen, die überwiegend aus ärmeren Schichten stammten, um ihre Zukunft, doch die Regierung setzte ihr Programm trotz anfänglichen Widerstands konsequent durch.

Alan Choe, der Leiter des Urban Renewal Department, formulierte die neue Perspektive unmissverständlich: Der Fluss hatte seine historische Rolle im Gütertransport verloren und war für moderne Seeschiffe nicht mehr geeignet. Unter seiner Führung gewann das Aufräumprogramm stetig an Fahrt. Als das Umsiedlungsprojekt in den späten 1970er Jahren seine finale Phase erreichte, entstanden jährlich etwa 30.000 neue Wohnungen. Die umgesiedelten Bewohner profitierten dabei von Entschädigungszahlungen und konnten ohne Kaution in neue Unterkünfte ziehen.
Im Zuge dieser Entwicklung erhielt die Stadt ein modernes Kanalisationssystem. Auch für die traditionellen Hawker fand sich eine zeitgemäße Lösung: Während einige ihr Gewerbe aufgeben mussten, erhielten andere Plätze in den neu geschaffenen „Hawker Centres“, die teilweise direkt am Flussufer entstanden und so die Verbindung zur Vergangenheit bewahrten.
Das „Grüne Singapur“
Der große Umbruch brachte nicht nur strukturelle Veränderungen. Parallel zur Umsiedlung der Industrie verfolgte die Stadtverwaltung ab 1963 das Konzept des „Grünen Singapur“. Während am Fluss noch Kohlehändler und Werften dominierten, wurden bereits tausende Bäume gepflanzt, nicht nur zur Verschönerung, sondern auch zur Klimaverbesserung. Die zahlreichen Betonbauten der modernen Stadt wurden durch Begrünung, oft mit Schlingpflanzen, ästhetisch aufgewertet.
Die Uferregion wurde grundlegend umgestaltet. Der Norden blieb der Verwaltung vorbehalten, geprägt von historischen Gebäuden und offenen Flächen. In den ehemaligen Industriegebieten entstanden Restaurants, Cafés, Shopping Malls, Residenzen und Hotelanlagen. Der Fluss entwickelte sich zum Zentrum für Freizeit und Unterhaltung, wie die Singapore River Regatta zeigt.
Die größte Herausforderung blieb die Reinigung des verschmutzten Flusses selbst. Diese zog sich über viele Jahre hin. Alleine in einer besonders intensiven Phase zwischen 1982 und 1984 wurden über 2.250 Tonnen Müll und Treibgut sowie 41.000 Tonnen kontaminierter Schlamm beseitigt. Als die Kai-Gegend endlich ihren toxischen Geruch verlor, war dies ein wichtiger Meilenstein in der Transformation der Stadt.

- Die Ruhr ist eine schwere Durchfallerkrankung, die sich besonders dort ausbreitet, wo viele Menschen auf engem Raum leben und schlechte hygienische Bedingungen herrschen – die Bakterien übertragen sich vor allem durch verunreinigtes Wasser und mangelnde Sanitäranlagen.
Die Tuberkulose, eine gefährliche Lungenerkrankung, wird durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen und findet in den dunklen, schlecht belüfteten und überfüllten Wohnungen ideale Bedingungen zur Ausbreitung, da die Menschen dort eng zusammenleben und die feuchte, stickige Luft die Erreger besonders gut überlebenslässt. ↩︎ - Die Straits Settlements waren die britischen Kronkolonien an der „Straße von Malakka“, der strategisch wichtigen Meerenge in Südostasien. Dazu zählten v.a. Penang, Dinding, Malakka und Singapur. ↩︎