Die Dominosteine des Präsidenten

Washington D.C., 7. April 1954. Bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus spricht Präsident Dwight D. Eisenhower über die Situation in Südostasien. Seine Worte werden die amerikanische Außenpolitik für Jahrzehnte prägen.
„Schließlich müssen wir die weiterreichenden Folgen betrachten, die sich aus dem ergeben könnten, was man das ‚Prinzip der fallenden Dominosteine‘ nennen könnte. Stellen Sie sich eine aufgestellte Reihe von Dominosteinen vor: Wenn Sie den ersten umstoßen, können Sie mit Sicherheit davon ausgehen, dass der letzte sehr schnell fallen wird. Dies könnte der Beginn eines Zerfallsprozesses sein, der tiefgreifende Auswirkungen hätte.“ (eigene Übersetzung)1
Die Erfahrungen der 1930er Jahre hatten sich tief in das Denken der US-Führung eingebrannt. Wie Dominosteine, die einer nach dem anderen umfallen, so fürchtete man nun auch das Kippen ganzer Länder in den kommunistischen Machtbereich. Die gescheiterte Appeasement-Politik gegenüber Hitler und der daraus folgende Weltkrieg schienen eine eindeutige Lektion zu lehren: Aggression müsse früh gestoppt werden, bevor sie sich ausbreiten könne. Diese sogenannte „München-Analogie“ prägte die amerikanische Außenpolitik nachhaltig. Sie führte zu der vereinfachenden Annahme, jede regionale Krise bedrohe automatisch die gesamte internationale Ordnung – ein Denkmuster, das auf Asien nicht übertragbar war.

Doch Eisenhower führt in seiner Rede weiter aus:
„Aber wenn wir zur möglichen Abfolge der Ereignisse kommen – dem Verlust von Indochina, Birma, Thailand, der Malaiischen Halbinsel und Indonesien –, sprechen wir über Gebiete, die nicht nur die Nachteile durch den Verlust von Rohstoffen und Rohstoffquellen vervielfachen, sondern auch über Millionen und Abermillionen von Menschen. Schließlich bringt die dadurch erreichte geografische Position zahlreiche Konsequenzen mit sich. Sie untergräbt die sogenannte Insel-Verteidigungskette von Japan, Formosa, den Philippinen und weiter südlich; sie rückt näher, um Australien und Neuseeland zu bedrohen.“ (eigene Übersetzung)2
Damit war die sogenannte „Domino-Theorie“ geboren – ein außenpolitisches Konzept, das die USA in den Vietnamkrieg führen sollte. Wie konnte eine einfache Metapher solch weitreichende Konsequenzen haben? Und warum wirkte diese Theorie weiter, selbst als sich ihre Grundannahmen als falsch erwiesen?
Was Eisenhower an jenem Apriltag 1954 formulierte, entwickelte sich zu einer umfassenden außenpolitischen Doktrin. Der Politikwissenschaftler Jerome Slater hat in seiner Analyse von 19933 die Kernelemente dieser Theorie seziert und ihre Schwächen offengelegt:
Die vier Annahmen der Dominotheorie
- Externe Steuerung Washington ging davon aus, dass Revolutionen in Südostasien nicht aus inneren Konflikten entstanden, sondern von außen gesteuert wurden. Die kommunistische Bewegung wurde als monolithischer Block gesehen, der vom Kreml oder Peking aus gelenkt wurde.
- Kettenreaktion Man nahm an, dass der Fall eines Landes automatisch zum Sturz der Nachbarländer führen würde – wie bei einer Reihe von Dominosteinen. Diese mechanistische Sicht der internationalen Beziehungen unterschätzte die Komplexität regionaler Politik dramatisch.
- Sofortiges Eingreifen Die US-Strategen glaubten, sie müssten sofort und entschieden eingreifen, sobald der erste „Dominostein“ wackelte. Diese Überzeugung führte zu vorschnellen und oft überzogenen Reaktionen auf lokale Krisen.
- Existenzielle Bedrohung Es wurde angenommen, dass selbst der Verlust kleiner, strategisch unbedeutender Länder eine existenzielle Bedrohung für vitale amerikanische Interessen darstellte.
Faktencheck Vietnam
Die Realität des Vietnamkonflikts widerlegte diese Annahmen Punkt für Punkt:
Der Bürgerkrieg im Süden entwickelte sich zunächst unabhängig von Hanoi. Erst als die USA ihr Engagement massiv verstärkten, intensivierte auch Nordvietnam seine Unterstützung für den Vietcong. „Die USA begannen 1950 in die internen Angelegenheiten Vietnams einzugreifen“, schreibt Slater, „und ihre Intervention weitete sich in den folgenden fünfzehn Jahren aus, bis sie 1965 zu einem vollwertigen militärischen Kampfeinsatz wurde.“

Die vermeintliche Einheit des kommunistischen Blocks erwies sich als Illusion. China und die Sowjetunion waren tief zerstritten, und Vietnam verfolgte seine eigenen nationalen Interessen. Hồ Chí Minh, der sowohl die französische als auch die japanische Besatzung bekämpft hatte, war in erster Linie Nationalist. Schon 1946 brachte er seine Haltung gegenüber China unmissverständlich zum Ausdruck:
„Ihr Narren! Begreift ihr nicht, was es bedeutet, wenn die Chinesen bleiben? Erinnert ihr euch nicht an eure Geschichte? Das letzte Mal, als die Chinesen kamen, blieben sie tausend Jahre! Die Franzosen sind Fremde. Sie sind schwach. Der Kolonialismus stirbt aus. Die Franzosen mögen eine Weile bleiben, aber sie werden gehen müssen, denn der weiße Mann ist in Asien am Ende. Aber wenn die Chinesen jetzt bleiben, werden sie niemals wieder gehen. Was mich betrifft, ich ziehe es vor, fünf Jahre lang französischen Mist zu riechen, anstatt mein Leben lang chinesischen Mist zu essen.“ (eigene Übersetzung).4
Die Kommunisten gewinnen den Krieg – keine weiteren Dominosteine fallen

Die Widerlegung der Dominotheorie lieferte die Geschichte selbst. Als Saigon am 30. April 1975 fiel, schien sich zunächst der schlimmste Albtraum der US-Strategen zu bewahrheiten. Laos und Kambodscha, die vor der Unabhängigkeit wie Vietnam zu Französisch-Indochina gehörten, gerieten tatsächlich unter kommunistische Kontrolle. Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Die Dominosteine fielen nicht weiter.
Im Gegenteil: Die nicht-kommunistischen Staaten Südostasiens gingen gestärkt aus der Krise hervor. Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien und die Philippinen erlebten in den folgenden Jahren einen starken wirtschaftlichen Aufschwung.
Noch überraschender war, was im kommunistischen Lager geschah. Statt sich zu einem machtvollen Block zusammenzuschließen, zerstritten sich die vermeintlichen Verbündeten. 1979 marschierte Vietnam in Kambodscha ein, um das Regime der Roten Khmer zu stürzen. China reagierte mit einer „Strafaktion“ gegen Vietnam.
Hier zeigt sich die zu starke Vereinfachung der Dominotheorie. Die verschiedenen Bedingungen in den asiatischen Ländern bedürften eine differenzierte Betrachtung – die Gefahr, dass ein Land „kippt“, und die potentiellen Auswirkungen auf den Westen, war unterschiedlich hoch. Die wahrscheinlichsten Dominoeffekte – etwa in Laos und Kambodscha – waren für die USA am wenigsten bedrohlich. Die wirklich gefährlichen Szenarien, wie eine kommunistische Machtübernahme in Japan, waren hingegen höchst unwahrscheinlich.
„Die Realität erwies sich als weitaus komplexer als die vereinfachende Metapher der Dominosteine“, resümiert Slater. Der Nationalismus erwies sich als stärkere Kraft als die kommunistische Ideologie. Die ASEAN-Staaten entwickelten erfolgreiche Strategien gegen kommunistische Infiltration. Und ausgerechnet Vietnam, der gefürchtete erste Dominostein, wurde zum Bollwerk gegen chinesische Expansionsbestrebungen in der Region.
Selbst wenn die Dominotheorie zugetroffen hätte – die amerikanischen Interessen wären kaum ernsthaft bedroht gewesen. Die wirtschaftliche Bedeutung Südostasiens für die USA war in den 1960er Jahren gering. Eine militärische Bedrohung des amerikanischen Festlands war selbst im Falle einer kommunistischen Machtübernahme unrealistisch.

Die wahren Kosten der Theorie waren immens: Über 58.000 gefallene US-Soldaten, geschätzte zwei Millionen tote Vietnamesen, ein gespaltenes Amerika und ein beschädigtes internationales Ansehen der Vereinigten Staaten. „Was auf dem Spiel stand“, so Slater, „war nicht die nationale Sicherheit Amerikas, sondern sein Selbstbild als globale Macht.“
Das Erbe der Dominotheorie
Die Dominotheorie wurde in den internen Strategiedebatten der US-Regierung kaum je grundsätzlich hinterfragt. Sie fungierte weniger als analytisches Werkzeug denn als Ideologie, die eine Politik des globalen Interventionismus legitimieren sollte. Selbst wenn alle ihre Annahmen zugetroffen hätten, wäre ein kommunistisches Südostasien keine existenzielle Bedrohung für die USA gewesen.
Die Dominotheorie als außenpolitische Doktrin mag ein Relikt des Kalten Krieges sein. Doch ihr Denkmuster ist auch im 21. Jahrhundert erstaunlich lebendig. „Die Gefahr liegt in der Vereinfachung komplexer internationaler Beziehungen“, warnt Slater in seiner Analyse. Komplexe regionale Konflikte werden in vereinfachende globale Bedrohungsszenarien übersetzt, die dann drastische Interventionen rechtfertigen sollen.
„Die Lektion Vietnams ist nicht, dass Interventionen immer falsch sind“, resümiert Slater. „Die Lektion ist, dass wir die Komplexität regionaler Konflikte ernst nehmen müssen.“ Jede Situation erfordere eine differenzierte Analyse:
- Welche lokalen Faktoren treiben den Konflikt?
- Welche regionalen Dynamiken sind am Werk?
- Sind vitale Interessen wirklich bedroht?
- Gibt es Alternativen zur militärischen Intervention?
Die Ironie der Geschichte: Heute ist Vietnam ein aufstrebender Wirtschaftspartner der USA und wichtiger Verbündeter in der Eindämmung chinesischen Einflusses in Südostasien. Die Dominosteine sind nicht gefallen – die Welt hat sich geändert, in einer Weise, die 1954 niemand vorhersehen konnte. Eine Lektion, die auch für heutige Krisenregionen gelten könnte.

- „Finally, you have broader considerations that might follow what you would call the ‘falling domino’ principle. You have a row of dominoes set up, you knock over the first one, and what will happen to the last one is the certainty that it will go over very quickly. So you could have a beginning of a disintegration that would have the most profound influences.“, The President’s News Conference“, 7. April 1954, in: Foreign Relations of the United States, 1952-1954, Indochina, Volume XIII, Part 1, Document 716. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1952-54v13p1/d716 ↩︎
- „But when we come to the possible sequence of events, the loss of Indochina, of Burma, of Thailand, of the Peninsula, and Indonesia following, now you begin to talk about areas that not only multiply the disadvantages that you would suffer through loss of materials, sources of materials, but now you are talking really about millions and millions and millions of people. Finally, the geographical position achieved thereby does many things. It turns the so-called island defensive chain of Japan, Formosa, of the Philippines and to the southward; it moves in to threaten Australia and New Zealand.“, The President’s News Conference“, 7. April 1954, in: Foreign Relations of the United States, 1952-1954, Indochina, Volume XIII, Part 1, Document 716. https://history.state.gov/historicaldocuments/frus1952-54v13p1/d716 ↩︎
- Jerome Slater (1993) The Domino Theory and International Politics: The Case
of Vietnam, Security Studies, 3:2, 186-224, DOI: 10.1080/09636419309347547↩︎
- “You fools! Don’t you realize what it means if the Chinese stay? Don’t you remember your history? The last time the Chinese came, they stayed one thousand years! The French are foreigners. They are weak. Colonialism is dying out. Nothing will be able to withstand world pressure for independence. They may stay for a while, but they will have to go because the white man is finished in Asia. But if the Chinese stay now, they will never leave.“As for me, I prefer to smell French shit for five years, rather than Chinese shit for the rest of my life.”, Pentagon-Papers, Wikisource. ↩︎